9.01.2011

Aufrechte Zahnärzte

«Vertrauenszahnärzte prangern Raubbau am Sozialstaat an»

Im Kanton Aargau spielt sich erstaunliches ab. Gemäss Aargauer Zeitung vom 5.1.11 sind alle vier kantonalen Vertrauenszahnärzte kollektiv von ihrem Amt zurückgetreten. Sie werfen der zuständigen Regierungsrätin in einem Schreiben vor, «dass Sie in keiner Weise an einer kostengünstigen und gerechten zahnmedizinischen Versorgung interessiert» sei. Man sehe sich «moralisch wie auch ethisch» ausserstande, neue Richtlinien umzusetzen und sich damit «am Raubbau am Sozialstaat» zu beteiligen.

Die Aufgabe der Vertrauensärzte besteht darin, im Auftrag der kommunalen Sozialämter oder der Sozialversicherungen zahnärztliche Leistungen zu überprüfen, welche von der öffentlichen Hand für Sozialhilfeempfänger oder Bezüger von Ergänzungsleistungen übernommen werden. Gemäss Aargauer Zeitung haben die Ärzte per sofort das Handtuch geworfen, weil der Steuerzahler beispielsweise für Gebisssanierungen bei Sozialhilfeempfängern aufkommen muss, die sich ein Normalverdiener, der die Zahnarztrechnung selbst bezahlen muss, niemals leisten könnte.

Chapeau, liebe Ärzte! Dass Ihr Euch hier für die Steuerzahler in die Bresche werft, ist absolut vorbildlich. Nur allzu oft erfährt man unter der Hand von medizinischen Leistungen, die anerkanntermassen übertrieben, medizinisch unsinnig, manchmal gar gefährlich sind, aber aus finanziellen Gründen gemacht werden. Ein ärztliches „whistleblowing“ scheint mir leider eher Seltenheitswert zu haben. Der Hinweis auf Missstände durch Fachleute ist besonders wichtig, denn als Nicht-Fachmann hat man keine Chance, Gehör zu finden.

Es ist zu hoffen, dass das Fähnlein der 4 aufrechten Aargauer schweizweit Schule macht. Und zwar nicht nur dort, wo der Steuerzahler zur Kasse gebeten wird. Unsinnige Diagnosen und Therapien finden auch im Bereich der Grundversicherung statt. Hier zahlt nicht nur der Staat, sondern auch der Patient und die Versicherung. Das vermindert die Anreize zu effizienter Medizin, zumal die Kosten weitgehend überwälzt werden können.

Auch hier gibt es Vertrauensärzte, die im Auftrag der Versicherer die Angemessenheit von Leistungen untersuchen und ggf. Missstände aufdecken sollen. Sie tun dies meist hinter den Kulissen, denn sie agieren in einem delikaten Spannungsfeld zwischen Patienten, Versicherern, und Kollegen. Deshalb werden die Fälle diskret behandelt und kommen selten an die Öffentlichkeit.

Weil die vertrauensärztliche Tätigkeit oft nur neben einer Hauptbeschäftigung ausgeübt wird, ist es kaum lohnend, sich unnötig aus dem Fenster zu lehnen. In der kleinen Schweiz, wo sich die Ärzte einer Fachrichtung innerhalb des Kantons persönlich kennen und regelmässige Kontakte pflegen, ist es ohnehin schwierig, wirklich unabhängige Experten zu finden.

Eine staatlich besoldete Ärztepolizei, die nach dem Vorbild der Drogenfahnder agiert, scheint mir allerdings auch kein gangbarer Weg. – So bleibt vorläufig nur die Hoffnung auf die Ethik der Ärzte und vor allem der Vertrauensärzte. Vielleicht haben die vier Aargauer Doktores ja Mut gemacht, den «Raubbau am Sozialstaat» vermehrt anzuprangern, wo immer er stattfindet.

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