Noch ein Blog?

Bericht im HSG-Blatt vom September 2011

Tilman Slembeck und sein Blog
«DieWelt – ökonomisch gesehen»

Seit wann sind Sie in den Sozialen Medien aktiv?
Seit März 2010.

Können Sie sich an Ihren ersten Blogeintrag erinnern?
Ja, es ging um Casting-Shows. In ökonomischer Perspektive sind die Humbug, denn knapp sind nicht gute Sänger oder Stimmen, sondern gute Songs. Diese Shows suggerieren eine ökonomische Basis (Selektion der Besten), die sie nicht haben.

Wie kamen Sie zum Bloggen?
Ich hatte schon verschiedentlich für Printmedien (vor allem NZZ) geschrieben. Der Publikationsprozess ist aber langwierig und es gibt Einschränkungen, zum Beispiel bezüglich Themenwahl und Länge der Beiträge. Zudem wurden meine Beiträge in anderen Blogs geblockt. Da habe ich recht spontan selbst begonnen.

Worum geht es in Ihrem Blog?
Ich diskutiere aktuelle, aber auch grundsätzliche Themen aus ökonomischer
Sicht. Im Sinne einer angewandten Sozialwissenschaft versuche ich, die
Leserschaft – wozu auch viele meiner Studenten zählen – für diese Perspektive zu interessieren.

Worin sehen Sie die grössten Vorteile der Sozialen Medien?
Tempo, Vernetzung und Fokussierung. Alte und neue Bekanntschaften können zeit- und raumlos gepflegt werden – wenn auch auf einer recht oberflächlichen Ebene.

Als ich im Frühling während meines Sabbaticals mehrere Monate in Australien unterwegs war, habe ich mit Spannung beobachtet, wie die jugendlichen Backpacker allabendlich zusammensassen, um ihre Facebook-Kontakte zu aktualisieren und mit der Heimat zu kommunizieren. Es ist eine Art E-Happening, wenn 15 Leute, die sich amTage kennengelernt haben, abends ihre Web-Identitäten abgleichen: «Es gibt 93 Mat Wilson in Facebook! Welcher bist Du?…»

Zudem kann der «long tail» der Interessen bestens abgedeckt werden. Kaninchenzüchter, Trance-Fans, Fingerhutsammler und andere single interest groups können sich endlich global vernetzen.

Wo liegen die Grenzen des Web 2.0?
Beim Web 3.0, dem Semantic Web, das Inhalte nach gewissen Regeln selbst
verknüpfen kann.

Welche Blogs lesen Sie selbst?
Regelmässig keine, fallweise einige, zum Beispiel den Becker-Posner-Blog,
die Ökonomenstimme.

Welche Social-Media-Plattformen sind für Sie unverzichtbar geworden?
Kein Gesichtsbuch, kein Gezwitscher, nur mein Blog.

Blog-Motto?
«I don’t care who writes a nation’s laws if I can write its economics textbooks.» Ein Zitat des Ökonomen Paul Samuelson, der ein wegweisendes Lehrbuch geschrieben hat. Oder auch: Ökonomie ist nicht alles, aber fast alles ist (auch) Ökonomie. (mz)

21.03.2010: Land auf Land ab wird gebloggt. Warum also noch ein Blog?

Wir Ökonomen sind merkwürdige Leute. Wir sehen vieles mit anderen Augen. Die meisten denken, wir seien Geldmenschen. Dabei sind wir Sozialwissenschafter – jedenfalls ein Teil jener, die sich in der Akademia rumtreiben, so wie ich.

Uns Mikroökonomen interessiert das Verhalten der Menschen. Wie sie entscheiden und wie sie interagieren. Zum Beispiel was sie konsumieren, wieviel sie sparen oder warum sie schwarzfahren. Um solcherlei systematisch analysieren zu können tun wir so, als ob die Leute rational wären – obwohl sie das natürlich nicht immer sind.  Aber im Durchschnitt ist es eine sehr brauchbare Annahme.

Wenn wir etwa verstehen wollen, warum der Anteil der Schwarzfahrer in öffentlichen Verkehrsmitteln so hoch ist, versetzen wir uns in die Situation eines “vernünftigen” Schwarzfahrers. Dieser wägt die Höhe der Busse und die Wahrscheinlichkeit erwischt zu werden gegen den offiziellen Fahrpreis ab und wählt, was für ihn günstiger ist. Sind die Busse und die Wahrscheinlichkeit gering und der Fahrpreis hoch, wird dann eben rational schwarzgefahren.

Mit solch simpler Logik lässt sich manches anstellen – das heisst: analysieren und vielleicht besser verstehen. Jedenfalls verleiht sie uns eine spezifische Perspektive auf die Dinge. Oder eben: DIE WELT – ÖKONOMISCH GESEHEN.

Dabei ist die Vielfalt der Themen enorm. Sie reicht von Casting-Shows über Abzockerei bis zu sperrigen Konzepten, wie etwa der “gesamtwirtschaftlichen Sparquote“, und grossen wirtschaftspolitischen Fragen. Dieser Blog ist ein Strauss von aktuellen, manchmal auch grundsätzlichen Beispielen und bietet damit (hoffentlich) unerwartete An- und Einsichten.

Nachtrag vom 4.4.10

Mein Freund Rolf hat Bedenken. Er schreibt mir:

“Was bringt es eigentlich, die Menschen in ihrem Verhalten zu analysieren? Die Analysen werden immer erst nach den “schlechten” Taten gemacht. Ändern diese Analysen das Verhalten der Bevölkerung? … wird nicht weiterhin schwarz gefahren?”

Gute Frage! Im Prinzip könnten wir versuchen, die Präferenzen zu ändern und durch moralische Überzeugungsarbeit (moral suasion) die Leute zu “besserem” Verhalten bewegen. Psychologen, Soziologen und Pädagogen gehen diesen Weg. Die Massnahme könnte im Aufhängen von Plakaten “Schwarzfahren ist unfair” bestehen. Also Verhaltensänderung durch Präferenzänderung.

Ökonomen gehen einen anderen Weg. Nach dem  Prinzip “people respond to incentives” muss die Anreize ändern, wer das Verhalten ändern will. Dies geschieht über die Änderung der Restriktionen. Im Schwarzfahrerbeispiel kann man entweder den Fahrpreis senken, die Kontrollen erhöhen oder die Bussen heraufsetzen – je nachdem was für den Anbieter billiger ist. Das senkt die Anreize zum Schwarzfahren garantiert. – Man sieht: das auf der ökonomischen Analyse basierende Instrumentarium ist sehr griffig und setzt – nicht nur im nachhinein – gelegentlich am “sensibelsten Körperteil” an – dem Geldbeutel.

Allerdings darf man auch nicht einem bedenkenlosen Steuerungsoptimismus verfallen. Anreizsteuerung hat immer auch Nebenwirkungen! Diese sind häufig negativ und deshalb unerwünscht. Ich werde in diesem Blog sicher noch öfter auf solche Anreizunverträglichkeiten zu sprechen kommen (siehe). Die Wirtschaftspolitik und das Gesundheitswesen sind voll von Beispielen… die allerdings komplexer sind, als das überaus simple Schwarzfahrerbeispiel.