6.06.2011

Spitalwesen im Blindflug

Mit der Umsetzung der „neuen Spitalfianzierung“ beginnt im nächsten Jahr ein neues Kapitel in unserem Gesundheitswesen. Neben der Einführung der Fallpauschalen für stationäre Spitalleistungen gibt es eine Reihe weiterer Änderungen, deren Auswirkungen vorerst unklar sind. Doch statt einer systematischen Überwachung der Entwicklung, startet die Schweiz einen gesundheitspolitischen Blindflug. Denn die Akteure im Gesundheitswesen haben es verpasst, eine wissenschaftliche Begleitforschung zu etablieren. So wird das Schwarze-Peter-Spiel munter weiter gehen.

Begleitforschung ja – Geld nein

Die Erfahrungen der letzten Jahre in Deutschland zeigen, dass bei der Einführung von grundlegenden Neuerungen nicht immer alles glatt läuft. Zwar scheinen die meisten Befürchtungen, welche mit der Umsetzung der neuen Spitalfinanzierung in der Schweiz verbunden sind, aus heutiger Sicht unbegründet. Doch sollte man die bestehenden Ängste, insbesondere seitens des medizinischen und pflegerischen Personals, ernst nehmen.

Deshalb wäre eine Forschung angezeigt, welche die Entwicklungen im Spitalsektor festhält, analysiert und die Erkenntnisse den Akteuren zurückspielt. Vermutlich war es naiv von mir, als ich in den Jahren 2008 und 2009 versuchte, alle relevanten Akteure für ein Monitoring zu gewinnen, welches dem stationären Sektor den Spiegel vorhält und in ein lernendes System mündet.

Ziel wäre ein wissenschaftlich fundiertes und neutrales Vorgehen, welches nicht von Partialinteressen geleitet ist und bei welchem die Akteure zunächst Ziele und Indikatoren selbst festlegen. Schon bei diesem Schritt hätten die Akteure offenzulegen, worin für sie die Ziele der Reform bestehen und woran sich feststellen lässt, ob das Projekt auf Kurs liegt oder nicht. Zudem hätte sich Raum eröffnet, um anhand klarer Fakten Entwicklungen zu reflektieren sowie Ängste und Bedenken aufzufangen. Und der Politik stünde eine neutrale Datenbasis zur Verfügung, um allfällige Korrekturen zu ergreifen.

Zwar bekundete man allseits Interesse am Aufbau eines lernenden Systems, doch verwies man mich stets auf mangelnde finanzielle Mittel. Selbst die bei der Gesetzgebung involvierten Politiker mussten zugeben, dass sie die Bereitstellung von Finanzen für die Begleitforschung in der Schweiz schlicht vergessen hatten.

Situation heute

Auch heute, ein halbes Jahr vor Einführung der Reform, ist der Ruf nach einer Begleitforschung nicht verstummt. Und tatsächlich bestehen einzelne Projekte. So will etwa der Ärzteverband (FMH) die Situation der Spitalärzte durch Befragung einer privaten Firma abklären lassen. Gemeinsam mit dem Spitalverband H+ will die FMH zudem Leistungs- und Kostenverschiebungen zwischen dem akutstationären und dem spital-/praxisambulanten Sektor untersuchen.

Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hatte lange gezögert, doch nach einigem Drängen im Herbst 2009 endlich eine Machbarkeits- und Konzeptstudie zur Evaluation der KVG-Revision in Auftrag gegeben, deren Ergebnis im Juni 2010 vorlag. Seit nunmehr einem Jahr hält sich das Amt aber bedeckt, was nun weiter geschehen soll. Dabei wäre es aus wissenschaftlicher Sicht nötig gewesen, zumindest für die Jahre 2010 und 2011 relevante Vergleichszahlen zu sammeln, um anschliessend die Wirkungen der Revision sinnvoll abschätzen zu können. Diese Chance ist leider inzwischen vertan.

Während sich das BAG auf den Standpunkt stellt, es sei höchstens für eine Politikevaluation, nicht aber für eine eigentliche Begleitforschung zuständig und es verfüge auch nicht über die nötigen finanziellen und personellen Ressourcen (wobei letzteres für mich durchaus nachvollziehbar ist), hat der zweite Hauptakteur – die SwissDRG AG – die heisse Kartoffel ebenfalls fallen gelassen.

Obwohl die SwissDRG AG zunächst eine Begleitforschung lancieren wollte, beschränkt sie sich nun auf die Erarbeitung eines Instrumentariums für die Kosten- und Leistungskontrolle. Und die Qualitätssicherung wurde dem ANQ (Nationaler Verein für Qualitätsentwicklung in Spitälern und Kliniken) delegiert.

Zu wenig, zu spät, zu unsystematisch

Insgesamt scheint mir die Situation angesichts der Bedeutung der Reform für unser Spitalwesen bedenklich. Ein reiches Land wie die Schweiz, welches jährlich über 60 Milliarden CHF im Gesundheitswesen ausgibt, ist anscheinend nicht in der Lage, rechtzeitig eine systematische und umfassende Begleitforschung auf den Weg zu bringen. Die jetzigen Projekte sind fragmentiert und werden keine Gesamtsicht erlauben. Ein lernendes System ist in weiter Ferne.

Und weil an den Projekten verschiedene Auftraggeber und Datenquellen beteiligt sind, werden die Ergebnisse kaum vergleichbar sein und gegenseitig in Zweifel gezogen werden. Jede Akteurgruppe hat ihre eigenen Daten und Studien und argumentiert entsprechend. Eine unabhängige wissenschaftliche Analyse fehlt. Die Arena-Sendung vom 20. Mai hat gezeigt, was dann passiert.

Strategie?

Aber vielleicht ist ja alles ganz anders. Vielleicht hat ja niemand so recht Interesse an klaren Verhältnissen. Vielleicht ist es ja viel einfacher, wenn man mangels solider Forschung den Schwarzen Peter weiterhin zwischen Bund, Kantonen, Ärzteschaft, Versicherern, Spitälern und Patienten hin und her schieben kann?

Jedenfalls scheint mir klar, dass unser Gesundheitswesen einen neuen Sündenbock in Form der Fallpauschalen geboren hat. Zukünftig werden sie für alles mögliche (und unmögliche) verantwortlich gemacht. Die Arena-Sendung vom 20. Mai war nur ein Vorgeschmack. – Die hier verpasste Chance  ist schade für das Schweizer Gesundheitswesen, aber gut für die Arena…

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