19.06.2011

Wirtschaftswachstum ohne Zuwanderung?

Die Zuwanderung ausländischer Arbeitnehmer ist eines der politisch heissesten Themen im (Wahl)Jahr 2011. Der Hunger der Wirtschaft nach qualifizierten Arbeitskräften und die Attraktivität der Schweiz haben seit Einführung der Personenfreizügigkeit mit der EU zu einem positiven Migrationssaldo geführt.  Doch ist die Zuwanderung für unser Wirtschaftswachstum zwingend?

Ökonomisch gesehen lautet die Antwort Nein. Wachstum ohne Nettozuwanderung ist im Prinzip möglich, aber nur unter gewissen Voraussetzungen.

Die grundlegende Bedingung ist, dass die Produktivität steigt. Wirtschaftswachstum entsteht nämlich nicht nur dadurch, dass zusätzliche Arbeitskräfte eingesetzt werden, sondern dass die bestehenden Arbeits- und Kapitalausstattungen produktiver eingesetzt werden.

Produktiver wird die Arbeit vor allem durch drei Faktoren. Erstens, durch vermehrten Kapitaleinsatz und Innovationen. Je umfangreicher und besser die eingesetzten Geräte, Maschinen und Anlagen, umso grösser ist die Arbeitsproduktivität. Dies gilt nicht nur in der traditionellen Industrieproduktion, sondern auch im Dienstleistungssektor. So ist bei Banken und Versicherungen die Produktivität der Mitarbeiter in den letzten 20 Jahren durch den Einsatz von IT massiv gesteigert worden. Moderne Skilifte und Bahnen befördern ein Vielfaches an Touristen im Vergleich zu früher. Allerdings ist das Potenzial zur technischen Produktivitätssteigerung bei Dienstleistungen aufgrund des hohen Anteils menschlicher Arbeit begrenzt.

Zweitens steigt die Produktivität durch laufende Anpassung und Verbesserung der Prozesse und Verfahren auf betrieblicher Ebene. Dies ist die Aufgabe des Managements und bedarf eines gut ausgebildeten Personals. Dies gilt, drittens, nicht nur auf Ebene des Kaders, sondern auf allen Ebenen eines Betriebes. Investitionen in Humankapital, sprich Aus- und Weiterbildung, sind fundamental für eine höhere Produktivität und damit weiteres Wachstum.

Und dies ist der zentrale Punkt. Die heutige Zuwanderung beruht massgeblich auf einem Mangel an qualifizierten Mitarbeitern. So lange die Schweiz nicht in der Lage ist, Fachkräfte in der notwendigen Qualität und Menge selbst hervorzubringen, ist sie auf deren Import vom Ausland angewiesen.

Ein Paradebeispiel liefert das Gesundheitswesen, wo vor allem die Ausbildung der Mediziner seit langer Zeit vernachlässigt wurde. Die Feminisierung des Arztberufs, einhergehend mit vermehrtem Wunsch nach Teilzeitarbeit und einem Anstieg der Nachfrage seitens der Spitäler, führte zu einer Lücke, die bislang nur durch Zuwanderung geschlossen werden konnte. Das inländische Angebot liegt beim medizinischen Nachwuchs in den Händen einiger Kantone, welche entsprechende Studienplätze anbieten. Gemäss Statistik (BfS) ist die Zahl der inländischen Abschlüsse in Humanmedizin seit 1990 etwa konstant geblieben (ca. 700), und dies obwohl die Zahl der Ärztinnen und Ärzte in unserem Lande seither von 21′000 auf gut 30′000 gestiegen ist.*

Zusammenfassend zeigt sich, dass stetiges Wirtschaftswachstum zwar auch ohne Zuwanderung denkbar wäre, aber nur bei massiven Produktivitätsfortschritten basierend auf Innovationen sowie Investitionen in Sach- und Humankapital. Letztere wurden in einigen Bereichen, wie dem Gesundheitswesen, aber auch in technischen Berufen, klar vernachlässigt.

Wer also gegen Zuwanderung, aber für Wirtschaftswachstum ist, muss für Investitionen in Forschung, Entwicklung und Bildung eintreten.

——

*Zahl von 1990 gemäss Bundesamt für Statistik, beruhend auf der Volkszählung; Zahl von 2009 gemäss Ärzteverband (FMH), beruhend auf der Ärztestatistik.

Kommentare

Sie schreiben in ihrem obigen Artikel: “Die Feminisierung des Arztberufs…führte zu einer Lücke” wie ist das zu verstehen bzw zu begründen?

@Ph. Volken
Frauen arbeiten tendenziell eher Teilzeit, manche machen eine berufliche Babypause und kehren nach einer “Familienphase” erst nach mehreren Jahren (oder gar nicht) ins Berufsleben zurück.
Wenn nun der Anteil der Frauen in der Studentenpopulation im Fach Medizin steigt (was sich ja beobachten lässt), müssen zusätzliche Personen ausgebildet werden, um das gleiche Arbeitsangebot zu erhalten. Ansonsten entsteht eine Lücke im Sinne der angebotenen Arbeitszeit.
Vereinfachtes Beispiel: Wenn ein Arzt der 100% arbeitete, pensioniert wird und durch zwei Ärztinnen ersetzt wird, die je 50% arbeiten, müssen doppelt so viele Menschen ausgebildet werden.

Vielen Dank für Ihre spannende Antwort!
… somit lohnt es sich eigentlich für die Gesellschaft tendenziell nicht, Frauen in “hochqualifizierte” Posten zu ordern. Einerseits generieren diese also für die Gesellschaft nur den “halben” Nutzen aus ihrer Ausbildung und anderer Seits müssen noch doppelt soviele ausgebildet werden, um das bisherige Angebot zu erreichen. Für mein Verständnis ein absolutes Effizients bzw Spezialisierungs Desaster. Liegt es daher nicht nahe zu sagen: Robinson sollte Beeren sammeln gehen und Freitag sollte sich um den Fischfang kümmern. Wo liegt mein Denkfehler?

Kein Desaster
Dass in unserer Gesellschaft vermehrt Teilzeit gearbeitet wird (übrigens nicht nur von Frauen), ist ein Trend, der sich aus ökonomischer Warte kaum kritisieren lässt. Denn was wäre die Alternative?
Frauen an den Herd? Nein, das würde den Präferenzen vieler widersprechen und wäre eine enorme Verschwendung produktiver Ressourcen. Die Schweiz hat eine im internationalen Vergleich sehr hohe Partizipationsrate bei den Frauen und das ist volkswirtschaftlich gut so und hat nichts mit mangelnder Nutzung von Spezialisierungsvorteilen zu tun.

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