8.08.2011

Mittels Fallpauschalen Kosten sparen

Die Einführung von Fallpauschalen bei Spitalbehandlungen bietet die Chance, unser Gesundheitswesen kostengünstiger zu machen und zugleich dessen Qualität zu steigern. Dies mag nach dem Wunschbild eines optimistischen Gesundheitsökonomen klingen, ist aber durchaus realistisch, wenn an der richtigen Stelle angesetzt wird – zum Beispiel bei den medizinischen Komplikationen. Zudem müssen die Fallpauschalen anreizkompatibel ausgestaltet sein.

Neue Studie des Unispital Zürich

Im Vorfeld der Einführung der Fallpauschalen ab 2012 (im Fachjargon DRGs genannt, diagnosis related groups) wird allenthalben über die möglichen Nebenwirkungen diskutiert. Gerne geht dabei ein Hauptanliegen der KVG-Revision vergessen, nämlich die Gesundheitskosten weniger stark wachsen zu lassen. Eine neue Studie des Unispital Zürich (USZ) gibt Hinweise, wie dies möglich ist.

Die Forscher haben anhand der Daten von 1200 Patienten untersucht, welche Faktoren die Fallkosten von grossen chirurgischen Eingriffen beeinflussen: «Die Studie belegt erstmals deutlich, dass vor allem Komplikationen Kostentreiber sind. (…) Bei komplikationslosem Verlauf betrugen die durchschnittlichen Kosten pro Fall knapp 28′000 CHF, bei einer Komplikation des höchsten Grades rund 160′000 CHF.» Quelle.

Dieser Befund hat offenkundig auch gesundheitsökonomische Implikationen. Denn erstens haben Komplikationen während oder nach chirurgischen Eingriffen nicht nur für die Betroffenen schwerwiegende Folgen, sondern sie sind auch mit einem verzögerten Genesungsprozess verbunden, was zu längerem Arbeitsausfall und damit zu volkswirtschaftlichen Kosten führt. Im schlimmsten Falle führen Komplikationen zu irreparablen Schädigungen oder zum Tode.

Zweitens erhöhen Komplikationen die direkten medizinischen Kosten. Deren Anstieg um das Fünffache ist gemäss der Zürcher Studie möglich. Weil in der Schweiz für ambulante und stationäre Akutbehandlungen in Krankenhäusern im Jahre 2009 über 20 Milliarden CHF ausgegeben wurden, ist hier ein enormes Sparpotential zu orten: «Extrapoliert man die Resultate der Studie auf die Gesundheitsausgaben, so verursachen Komplikationen Kosten in Milliardenhöhe. Daher muss der medizinischen/chirurgischen Versorgungsqualität grösste Bedeutung beigemessen werden.» Quelle.

Fallpauschalen…

Wird ein Fall – beispielsweise ein chirurgischer Eingriff – mit einer Pauschale entgolten und ist das Spital auch für die Versorgung der medizinischen Folgen allfälliger Komplikationen verantwortlich, besteht für das Spital ein starker Anreiz, Komplikationen zu minimieren. Dadurch werden nicht nur Kosten gespart (im Gegensatz dazu verdient das Spital heute an der zusätzlichen Behandlung der Komplikationen), sondern es erhöht sich auch die Ergebnisqualität.

…müssen anreizkompatibel ausgestaltet sein

Damit dieser ökonomische Anreiz wirklich greift, müssen aber mindestens drei Bedingungen gelten, um unerwünschte Nebenwirkungen – sprich strategisches Verhalten der Spitäler –  zu vermeiden.

Erstens muss durch eine rigorose Aufnahmepflicht verhindert werden, dass Spitäler Patienten abwimmeln, bei denen sich ex ante eine erhöhte Komplikationsrate vermuten lässt. Insbesondere ältere und multimorbide Patienten könnten ansonsten abgeschoben werden. In der Praxis werden die kantonalen Gesundheitsdirektionen vor die Herausforderung gestellt, diese Aufnahmepflicht für Spitäler auf den kantonalen Spitallisten auch durchzusetzen. Schon heute besteht vereinzelt die Tendenz, komplexe Fälle mit der Begründung mangelnder Kapazität („wir sind schon voll“) nicht aufzunehmen.

Zweitens muss bei der Berechnung der Fallpauschale berücksichtigt werden, dass sich gewisse Komplikationen in der medizinischen Praxis nicht immer vollständig vermeiden lassen. Wenn beispielsweise bei einem Eingriff –  der nach allen Regeln der Kunst durchgeführt wird –  in 10% der Fälle dennoch Komplikationen auftreten und dadurch Kosten von durchschnittlich 1‘000 CHF entstehen, muss die Pauschale den Erwartungswert von 100 CHF für Komplikationen beinhalten. Dieser „Zuschlag für übliche Komplikationen“ muss anhand gesicherter Statistiken berechnet und periodisch überprüft werden.

Drittens dürfen erhöhte Pauschalen für die Behandlung der Folgen von Komplikationen nur ganz ausnahmsweise entrichtet werden. Wie die Zahlen der USZ-Studie belegen, können Komplikationen medizinische Folgekosten von vielen 10‘000 CHF verursachen. Für die zusätzliche Abgeltung solcher Kosten ist zu verlangen, dass sie aufgrund völlig unabsehbarer und keinesfalls vermeidbarer Komplikationen entstanden sind. Würden die Folgekosten von Komplikationen ausserhalb der Pauschale routinemässig entschädigt, ginge der Anreiz zu deren Vermeidung verloren.

Fragliche Umsetzung

Die erste Version des Schweizer Fallpauschalenkatalogs lässt bezüglich dieser Anforderungen allerdings gewisse Zweifel aufkommen. Denn der Katalog unterscheidet nicht zwischen Komplikationen und Komorbiditäten. Letzteres sind Begleiterkrankungen, welche Auslöser für Komplikationen sein können und deshalb manchmal eine höhere Pauschale rechtfertigen mögen.  Komplikationen ohne Komorbiditäten sollten aber nur gemäss ihrem Erwartungswert in die Pauschale einfliessen (vgl. Anforderung zwei, oben).

Immerhin lösen nur „schwere“ und „äusserst schwere“ Komplikationen und Komorbiditäten eine erhöhte Fallpauschale aus. Je nach Fallgruppe, kann sich die Pauschale dadurch mehr als verdoppeln. Die korrekte Bemessung des erhöhten Kostengewichts ist dabei nicht ganz trivial. Wird dieses zu hoch angesetzt, können multimorbide Patienten zu „rentablen Fällen“ werden, während sie andernfalls Gefahr laufen, abgeschoben zu werden.  Die Praxis wird zeigen, ob diese Höherstufungen eher die Regel oder – wie oben in Anforderung drei gefordert – die deutlich Ausnahme bilden. Entsprechende Anpassungen aufgrund der Erfahrungswerte sind nicht auszuschliessen.

Konsequenzen

Die Konsequenzen anreizkompatibler Fallpauschalen liegen unter anderem in der Minimierung von Komplikationen. Hinweise darauf, wie dies geschehen kann, liefern die Autoren der USZ-Studie. Sie propagieren eine „Konzentration von seltenen und komplikationsanfälligen Operationen auf einige Zentren, durch (Sub)Spezialisierung nach dem Vorbild der UEMS (Union Européenne des Médicins Spécialistes) und durch die Optimierung und Anpassung der Prozesse in Spitälern.“

Besser hätte es kein Gesundheitsökonom ausdrücken können. Die Abkehr von der Vorstellung, dass jedes Spital sämtliche Leistungen in bester Qualität und zu vernünftigen Kosten erbringen könnte, ist damit endgültig besiegelt.

Dass hiervon auch Kantonsspitäler betroffen sein können, mag für manche Kantonspolitiker eine schmerzliche Einsicht darstellen. Der Weg zu Gesundheitsgemeinden oder Versorgungsregionen über die Kantonsgrenzen hinweg, ist aber ganz klar vorgezeichnet. Rein kantonale Spitalplanungen sind ein Anachronismus, den wir uns nicht länger leisten dürfen.

Kommentare

Schöne Darlegungen zu anreizkompatiblen Fallpauschalen. Kann es das überhaupt geben? Brauchen wir soviel monetären Anreiz für Ärzte, und können wir die Anreize wirklich so zielgenau definieren?

Ist es denn wirklich so, dass Kliniken/Ärzte bisher Komplikationen in Kauf genommen oder gar gefördert haben? Und nun durch Anreize so gesteuert werden müssten, dass sie Komplikationen verhindern wollen? Die Ärzte die ich kenne, sind eher nicht so.

Wenn man das Anreizargument zu Ende denkt, dann kann man befürchten, dass Fallpauschalen einen Anreiz zur vorzeitigen Entlassung – ggf. auch mit Todesfolge, jedenfalls aber ohne Rücksicht auf das individuelle Tempo der Erholung von einer Krankheit – enthalten.

In jedem Fall gibt es schon heute einen Anreiz, im Zweifel eine lukrative Diagnose zu stellen. Lieber eine leichte Pneumonie als eine schwere Bronchitis. Vielleicht besteht sogar ein Anreiz, zu warten bis aus der schweren Bronchitis eine leichte Pneumonie wird?

Vermutlich sind “normale” Komplikationen sehr stark von der Zusammensetzung der Patienten abhängig. Diese wiederum kann sich zwischen den Krankenhäusern deutlich unterscheiden.

Und schliesslich hat die vorgeschlagene Spezialisierung erhebliche soziale Folgekosten (evtl. nicht-monetärer Art): die Angehörigen können ihre Kranken nur noch schwer besuchen.

Die Spezialisierung führt auch noch weiter dazu, dass nicht mehr der Mensch sondern seine Krankheit (bzw. eine seiner Krankheiten) behandelt wird.

Nach dem was ich bisher aus privaten Kontakten zu Patienten oder Mitarbeitern von Krankenhäusern (Pfleger, Ärzte) gehört habe, läuft das DRG-Projekt grosse Gefahr, das Gesundheitswesen noch stärker zu einem zahlengetriebenen Krankheitswesen umzuformen, in dem die Menschen (Kranke und Heilende) immer weniger Spielraum für eine individuelle Hilfe zur Gesundung haben.

Danke für die vielen Diskussionspunkte, lieber Horst!

Zunächst zum Grundsätzlichen. Spitäler sind kein anreizfreies Vakuum. Selbstverständlich bestehen schon heute ohne DRGs jede Menge monetärer und nicht-monetärer Anreize. Nur gehen diese teilweise in die falsche Richtung und müssen deshalb korrigiert werden.

Die USZ-Studie ist von Medizinern gemacht und ortet im Bereich der Komplikationen ein enormes Sparpotential. Dieses dürfte es gar nicht geben, wenn die Anreize bereits optimiert wären.

Ein wichtiger Weg zu besserer Qualität und tieferen Kosten ist die Spezialisierung — aber nur in einem bestimmten Sinne und Kontext.

Das betrifft zunächst die Mindestfallzahlen. Wenn Du eine Knieoperation brauchst, zu welchem Operateur würdest Du gehen? Zu einem, der diese OP 3mal pro Jahr macht oder zu einem, der sie 30mal pro Jahr macht? Eben.
Operateure und OP-Teams brauchen Routine, gerade auch um bei Komplikationen richtig zu reagieren. Durch geeignete Massnahmen (wie Rotationen) kann man vermeiden, dass sie betriebsblind werden. Erfahrene, spezialisierte Teams sind besser, schneller und günstiger – das kann jeder Spitaldirektor bestätigen.

Allerdings sprechen wir hier von Spezialistentätigkeit bei klaren Diagnosen. Diese Tätigkeit muss eingebettet sein in einen System von Allgemeinpraktikern und anderen Grundversorgern, die mehr als nur ein Organ oder eine Operationstechnik kennen und deshalb kranke Menschen ganzheitlich erfassen und betreuen können. Bei übermässiger Spezialisierung gerät der Mensch mit Geist, Seele und Körper ansonsten in Vergessenheit. Es braucht zweifellos nicht nur Spezialisten, aber auch.

Dass Spezialisierung dazu führen soll, dass Angehörige die Patienten “nur noch schwer” besuchen können und deshalb “erhebliche soziale Folgekosten” entstehen, ist ein eingermassen absurdes Argument. Vernünftig dimensionierte Versorgungsräume, man diskutiert ca. 7 bis 10 für die Schweiz, ermöglichen in unserem kleinen Land kurze Reisewege trotz Spezialisierung. — Würdest Du für den Spitalbesuch bei Deiner Mutter nicht 60 Minuten (statt nur 20 Minuten) Reisezeit in Kauf nehmen, wenn sie dafür die bessere medizinische Betreuung erhält? Eben.
Es ist genau Dein Argument, das lange dazu verwendet wurde, um eine kostenintensive, kleinräumige Spitalstruktur zu rechtfertigen.

Eine weitere Befürchtung betrifft, die vorzeitigen (“blutigen”) Entlassungen; vgl. die Arena-Diskussion vom 20.05.11. Die internationale Literatur zeigt, dass diese Befürchtung kaum haltbar ist. Selbst Ärzte, die den Fallpauschalen abgeneigt sind, ziehen dieses Gespenst nicht mehr aus der Mottenkiste; vgl. Arena.
Zudem werden in der Schweiz vorzeitige Entlassungen mit einem Abschlag bestraft und die Spitäler sind zudem noch 18 Tage nach der Entlassung für den Fall verantwortlich. (Du siehst, das System ist kompliziert und ich habe nicht alles in den kurzen Text hineingebracht.)

Eine weitere Befürchtung hast Du gehört: “…läuft das DRG-Projekt grosse Gefahr, das Gesundheitswesen noch stärker zu einem zahlengetriebenen Krankheitswesen umzuformen…”
Das Gegenteil ist der Fall. Statt 26 unterschiedlichen Systemen gibt es künftig nur noch 1 schweizweit einheitliches System. Nur während der Übergangsphase entstehen Umstellungskosten.

In einem Punkt stimme ich aber mit Dir überein. Noch besser als nur die Fallpauschalen allein, sind integrierte Versorgungsmodelle mit Kopfpauschalen (sog. capitation), bei welchen die Leistungserbringer an der Gesundheit verdienen, statt an der Krankheit; vgl. meinen Blogbeitrag vom 9.12.10.

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