13.02.2012

Spiegelfechten mit Wachstumsdaten

In den Medien werden die Rückkehr Asiens auf die Weltbühne und der Niedergang des Westens heraufbeschworen; vgl. meine Nachlese zum WEF. Betrachtet man die vom Internationalen Währungsfonds (IWF) kürzlich publizierten BIP- und Wachstumsdaten genauer, ist Zurückhaltung geboten. Zwar wird China bezüglich seines Anteils an der globalen Wirtschaftsleistung die USA in ein paar Jahren eingeholt haben. Dennoch wird es selbst unter sehr optimistischen Annahmen noch einige Jahrzehnte dauern, bis die Asiaten die westlichen Länder bezüglich des BIP pro Kopf eingeholt haben. ‒ Dies wird hoffentlich nie geschehen, denn die Folgen für Ressourcen und Umwelt wären verheerend.

Im neuen Jahrzehnt starrt die Welt gebannt auf den wirtschaftlichen Aufschwung in Asien und den vermeintlichen Niedergang der Bedeutung der USA und Europas. Offenbar war dies eines der zentralen Themen am diesjährigen World Economic Forum in Davos.
In der Tat zeigen die Daten des World Economic Outlook (WEO), dass der relative Anteil der USA und der EU an der globalen Wirtschaftsleistung seit den 1990er Jahren sinkt und in China steigt. Bereits im Jahre 2016 könnten die BIP-Anteile von USA, China und EU mit jeweils ca. 18% etwa gleich gross sein (siehe Graphik 1). Der Anteil Indiens könnte dann ungefähr 7% des Welt-BIP ausmachen.

Graphik 1 im Google Public Data Explorer

Kann man hieraus auf den Niedergang des Westens schliessen?

Zunächst ist festzuhalten, dass diese Entwicklung nicht auf einer Schrumpfung der Wirtschaftsleistung des Westens beruht, sondern auf dem relativ stärkeren Wachstum in China. Das Phänomen der ökonomischen Konvergenz, wonach “reiche” Volkswirtschaften langsamer wachsen als “arme” Länder, sodass letztere aufholen, ist in der ökonomischen Literatur ausführlich untersucht worden und keinesfalls überraschend. Es beruht darauf, dass das Grenzprodukt des Kapitals mit steigendem Kapitaleinsatz sinkt.

Ökonomisch gesehen ist dieser Aufholeffekt nicht beunruhigend, sondern erfreulich, weil er einen besseren Lebensstandard für hunderte Millionen von Menschen bedeutet, ohne dass dieser andernorts sinkt. Inwiefern sich dadurch die globalen Machtverhältnisse ändern, muss vorläufig offen bleiben. Immerhin gibt es Hinweise.

Schon seit den 1970er Jahren konsumiert der Westen zunehmend asiatische Billigprodukte ‒ zunächst japanische Autos, dann taiwanesische Uhren und später chinesisches Spielzeug − ohne dadurch grösseren Schaden genommen zu haben.* Militärisch zählt China schon lange zu den atomaren Grossmächten. Chinas wirtschaftliche Entwicklung wird allfälliges Streben nach Dominanz gegenüber anderen Nationen in den kommenden Dekaden allerdings eher dämpfen, weil die Demokratisierung langsam aber stetig fortschreitet, sich wirtschaftliche Abhängigkeiten gegenüber dem Rest der Welt weiter verstärken, vermehrt interne Probleme (etwa im Umwelt- und Sozialbereich) die Kräfte absorbieren und in einer heterogenen Gesellschaft zudem Zerfallstendenzen (wie etwa in der Sowjetunion) einsetzen werden. Ähnliches gilt für Indien, welches ebenfalls ein Vielvölkerstaat ist.**

Chindia Jahrzehnte im Rückstand

Ein anderes Bild ergibt sich, wenn man das Bruttoinlandprodukt (BIP) pro Kopf betrachtet. Hier hinken China und Indien noch weit hinter der westlichen Welt, und Japan, zurück (siehe Graphik 2). Die individuellen Einkommensniveaus liegen deutlich auseinander. Es wird Jahrzehnte dauern, bis die beiden grossen Asiaten (Chindia) diesbezüglich auf ein westliches Niveau kommen.

Graphik 2 im Google Public Data Explorer

Gedankenexperiment

Das folgende Gedankenexperiment mag dies verdeutlichen. Im Zeitraum 2000 bis 2010 wuchs das Pro-Kopf-Einkommen in China mit durchschnittlich ca. 12% und in Indien mit ca. 8% pro Jahr. Im selben Zeitraum betrugen die jährlichen Wachstumsraten für die USA nur 2.9% und für die EU 3.3% (Quelle: IWF/WEO)

Stellen wir uns vor, dass Chindia dieses hohe Wachstum dauerhaft durchhalten könnte und ebenso die USA und Europa auf ihren damaligen Wachstumsraten verharren (obwohl diese auch das Minderwachstum der Krisenjahre 2008/09 umfassen). Wie lange würde es unter diesen Bedingungen dauern, bis Chindia den Westen bezüglich des Pro-Kopf-Einkommens eingeholt hat?

Die USA würden von China in 31 Jahren und von Indien in 61 Jahren eingeholt. Analog würde China 27 Jahre und Indien 57 Jahre brauchen, um die EU einzuholen. Selbst bei unrealistisch hohen asiatischen Wachstumsraten würde Chindia erst etwa im Jahre 2040 den Anschluss finden.

Gehen wir hingegen mit 3.3% jährlichem Wachstum für EU-USA sowie 8% für China und 6% für Indien von immer noch hohen, aber für sehr lange Zeiträume eher realistischen Annahmen aus, verlängert sich die Aufholzeit erheblich. China bräuchte dann 61 Jahre und Indien 123 Jahre, um die USA einzuholen. Bezüglich der EU dauert es dann bei China 50 Jahre und bei Indien 105 Jahre.

Dies sind enorm lange Zeiträume, in denen viel geschehen kann, sodass ein Einholen oder gar Überholen Asiens bezogen auf das individuelle Einkommen reichlich unrealistisch erscheint. Zudem gibt es in der Geschichte kein Land, das während 50 oder 60 Jahren ein durchschnittliches, jährliches Wirtschaftswachstum von 8% aufweisen konnte. Auch in China wachsen die Bäume nicht in den Himmel. Einzig eine Beschränkung des Bevölkerungswachstums − welche durch ökonomisches Wachstum durchaus gefördert wird − kann auch bei weniger ausgeprägter Wirtschaftsentwicklung langfristig zu deutlich steigenden individuellen Einkommen führen.

Wachstumsgrenzen

Die Grenzen des asiatischen Wachstums liegen aber nicht nur im ökonomischen und im politischen Bereich. Ein westliches Konsumniveau in Chindia würde mit einem schlicht nicht verkraftbaren Verbrauch an Ressourcen und Energie einher gehen und zu exorbitanten Umweltschäden führen. Allein schon die Übertragung des US-amerikanischen Wasserverbrauchs auf die Bevölkerung Chindias würde die globalen Süsswasservorräte in Kürze vernichten.

Nur falls es gelingt, Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch nachhaltig zu entkoppeln, ist ein Aufholen hinsichtlich des Einkommensniveaus überhaupt denkbar. Vorläufig hat das Jonglieren mit globalen BIP-Anteilen und mit Wachstumsraten wenig realen Gehalt.

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*Als ich in den 1990er Jahren in den USA lebte, stammte fast alle Güter des täglichen Lebens aus Asien. Selbst die Postkarten, die ich vom Harvard Square in die europäische Heimat schickte, waren zuvor in China gedruckt worden. Mein gezielter Versuch, US-Produkte zu kaufen, beschränkte sich letztlich auf einheimische Lebensmittel (und einen Jeep, der schlecht funktionierte). Selbst die Möbel habe ich bei IKEA gekauft. Auch diese kamen aus Asien.

**Die Liste der andauernden Kriege und Konflikte führt bezüglich Indien folgende Konfliktherde auf: Kaschmir, Nagaland, Assam, Westbengalen und Andhra Pradesh, Tripura. Dies sind nur jene Gebiete, in denen es zu einem offenen und gewaltsamen Widerstand gekommen ist.

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