21.07.2012

Olympischer Heimvorteil

Wie viele Medaillen werden die Briten in London gewinnen?

In vielen Sportarten existiert ein Vorteil zugunsten der heimischen Athleten und Teams. Auch bei olympischen Spielen. So haben die Kanadier 2010 in Vancouver mehr Edelmetall gewonnen als je zuvor.  Und dieses Jahr werden die Briten von ihrem olympischen Heimvorteil profitieren. Jedenfalls wenn sie sich an die Statistik halten. Dann könnten in London gut 60 Medaillen drin liegen. – Besonders ausgeprägt scheint der Vorteil beim Gold zu sein. China konnte seinen Goldsegen von 32 Medaillen in Athen 2004 auf 51 Medaillen bei den heimischen Sommerspielen 2008 steigern. Den Briten verspricht die Statistik für dieses Jahr rund 28 Goldmedaillen. Aber nur, falls die Nerven der Athleten nicht vor heimischem Publikum versagen.

Der Heimvorteil beruht auf vielerlei Ursachen. Körperliche und mentale Umstellungen durch Wechsel der Zeit- und Klimazone oder der Meereshöhe fallen für die heimischen Sportler weg. Ebenso bleiben ihnen eine lange Anreise und ungewohntes Essen erspart. Die Selbstverpflegung aus mitgebrachten Konserven aus der Heimat ist wohl nicht jedes Sportlers Sache. Hinzu kommt die Nähe zu Familie und Freunden sowie das ganze gewohnte Umfeld. Fehlendes Heimweh als Heimvorteil sozusagen.

Nicht zu unterschätzen ist auch die Vertrautheit mit den lokalen Gegebenheiten. Für Spitzenläufer ist jede Tartanbahn anders und deshalb gewöhnungsbedürftig. Beim Tennis zeigt der Ball auf Meereshöhe ein anderes Flugverhalten als in Gstaad, wo die Luft dünner ist.

Das Debakel der deutschen Schwimmerinnen im Jahre 2000 erklärte die Medaillenanwärterin Franziska van Almsick auch damit, dass sie in Sydney nicht mit dem lokalen Wasser klar gekommen sei. Was für den Laien eher nach einer Ausrede klingt, wurde von der Fachpresse mit Verständnis aufgenommen, obwohl selbst die Wassertemperatur strengen Regeln unterliegt. Die metaphysische Qualität des Wassers hingegen lässt sich nicht reglementieren.

Publikum und Schiedsrichter

Der offensichtlichste Faktor ist die Unterstützung des Publikums. Wenn beim Aufruf des Namens das Stadion vor Nationalstolz bebt, werden Hormone freigesetzt, die den Konkurrenten vielleicht fehlen. Dann ist allerdings mentale Stärke gefragt, denn die Angst des Versagens vor heimischen Rängen kann auch zur Belastung werden.

Je nach Sportart können auch Schiedsrichterentscheidungen eine Rolle für den Heimvorteil spielen. In einer Analyse der olympischen Sommerspiele zwischen 1896 und 1996 unterscheiden drei Forscher vom Research Institute for Sport and Exercise Sciences in Liverpool Sportarten hinsichtlich der Einflussmöglichkeiten der Schiedsrichter.* Dieser Einfluss kann gering sein – bei Leichtathletik, Rudern, Tennis, Gewichtheben, Schwimmen – , eine mittlere Ausprägung haben – bei Teamsportarten z.B. Volleyball, Fussball, Feldhockey, oder gross sein, etwa beim Boxen, Turmspringen, Synchronschwimmen oder der Gymnastik.

Die Autoren kommen zum Schluss, dass das Publikum einen deutlich grösseren Einfluss auf die Schiedsrichter ausübt, als auf die Athleten selbst. Der Heimvorteil ist nämlich bei Sportarten mit weitreichenden Schiedsrichterkompetenzen klar am stärksten ausgeprägt.

Numerische Stärke und Aussenseiter

Bei olympischen Sommerspielen gilt zudem ein numerischer Vorteil. So erhalten in vielen Sportarten Teilnehmer des Gastlandes eine automatische Qualifikation, auch wenn sie die üblichen Qualifikationsvorgaben nicht erfüllen. Dies kann dem Gastland immer dann zum Vorteil gereichen, wenn die Medaillenanwärter anderer Nationen durch Krankheit oder Verletzungen ausscheiden.

Der Einsatz von Aussenseitern ist schliesslich das Salz in der olympischen Suppe. Man denke etwa an Eddy ‘The Eagle‘ Edwards, der bei den Winterspielen in Calgary 1988 das Publikum durch seine Luftsprünge auf der Sprungschanze erfreute. Oder an Eric ‘The Eel’ Moussambani aus Äquatorialguinea, der die 100 Meter im Aquatic Center von Sydney 2000 nur mit knapper Not schafte, damit aber einen nationalen Rekord aufstellte. Zugegeben, in diesen Fällen hätte auch der Heimvorteil nicht viel gebracht.

Die Athleten des Gastgeberlands sind zudem besonders motiviert. Spitzenathleten trainieren noch härter und auch in Sportarten, welche nicht zu den traditionellen Stärken des Landes zählen, qualifizieren sich mehr Athleten wenn die Spiele im eigenen Land stattfinden. Mit einem Exploit, getragen vom Jubel des heimischen Publikums, liegen dann durchaus zusätzliche Medaillen drin.

Was die Statistik verspricht

Für eine zahlenmässige Berechnung des Heimvorteils steht dem Analytiker glücklicherweise eine grosse Datenmenge zur Verfügung. Allerdings sind ein paar Klippen zu umschiffen. So lassen sich etwa die sagenhaften 195 Medaillen der Sowjetunion in Moskau 1980 auf den Boykott vieler westlicher Sportnationen zurückzuführen. Gleiches gilt für die nachfolgenden Spiele von 1984 in Los Angeles, wo die USA von einem Boykott des damaligen Ostblocks profitierte und 174 Medaillen einheimste.

Aufgrund des Zerfalls der Sowjetunion und der deutschen Wiedervereinigung, sind die Daten des olympischen Medaillenspiegels erst ab den 1990er Jahren problemlos verwertbar. Deren Analyse ergibt einen statistischen Heimvorteil von 1.8% bei den Sommerspielen und 3.8% bei den Winterspielen.

Nun werden in London 302 Wettbewerbe durchgeführt. Dies sind gleich viele wie vor vier Jahren in Peking, wo insgesamt 958 Medaillen vergeben wurden. Ein durchschnittlicher Vorteil von 1.8% bedeutet somit ein Plus von 17 Medaillen. Addiert man diese zu den 47 Medaillen, welche die Briten in Peking erzielten, ergibt sich eine Prognose von 64 Medaillen für die Untertanen ihrer Majestät in diesem Sommer. – Analog dürfen die Russen in zwei Jahren auf 9 zusätzliche Medaillen hoffen, wenn die Winterspiele in Sotschi stattfinden werden.

Besonders ausgeprägt scheint der Heimvorteil beim olympischen Gold zu sein. Keines jener Länder, welche seit 1992 eine Sommer- oder Winterolympiade ausrichteten, hat vorher oder nachher so viele Goldmedaillen gewonnen, wie just im Jahr der heimischen Durchführung. Vom hausgemachten Goldsegen am deutlichsten profitiert haben die eingangs erwähnten Chinesen sowie zuletzt die Kanadier, welche durch eine Verdoppelung der Goldmedaillen zum Gesamtsieger der Spiele in Vancouver 2010 avancierten.

Den Briten verspricht die Statistik für London ebenfalls einen Goldrausch. Bereits 2008 konnten sie die Goldmedaillen gegenüber 2004 von deren 9 auf 19 mehr als verdoppeln. Kommt nun noch der Heimvorteil hinzu, dürfen sie sich auf rund 28 Siegerplätze freuen.

Natürlich ist meine Schätzung mit einiger Unsicherheit behaftet. Doch wenn ich wetten müsste, würde ich auf genau diese Zahlen setzten.

*Balmer, Nevill und Williams (2003): Modelling home advantage in the Summer Olympic Games, Journal of Sports Sciences, 2003, 21, 469–478

Kommentare

Interessante Überlegung bzw. Berechnung, die meiner Meinung nach auch eintreffen darf, so lang unser Roger Federer Gold gewinnt und nicht etwa Andy Murray:-)

Ist Andy Murray nicht Schotte? Vielleicht mindert das den Heimvorteil etwas….

Wenn er gewinnt Engländer bzw. Brite, sonst Schotte. Korrekt:-)

Heute ist Andy Murray zum Briten geworden. Er hat den Heimvorteil zu nutzen gewusst, wurde vom Publikum getragen, war fitter und motivierter als unser Roger.

Ich hoffe für Sie, dass Sie trotzdem noch Geld gewettet haben..;-) Kann man Sie als Wetthilfe anstellen?;-)

Ja, meine Prognose ist recht exakt eingetroffen :-)
Manchmal ist es schon erstaunlich, was Statistik leisten kann, aber etwas Glück war auch dabei…

[...] Zudem gibt es für das Durchführungsland einen statistisch klar nachweisbaren Heimvorteil (siehe Blogeintrag). In sportlicher Hinsicht wäre das nicht [...]

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