7.12.2015

Die Crux mit den Franchisen

Neue Zürcher Zeitung, 2. Dezember 2015

November war Wechselzeit für die Krankenversicherung. Die Versicherten mussten sich fragen, ob sie bei der richtigen Versicherung sind und ob sie den besten Tarif gewählt haben. Hier kann viel Geld gespart werden. Dabei spielt die Wahl der Franchise eine wichtige Rolle.
Krankenversicherer sind verpflichtet, unterschiedliche Franchisen zwischen 300 und 2500 Franken anzubieten. Dabei gilt: Je höher die Franchise, umso höher der Prämienrabatt. Gesundheitsminister Berset sind diese Rabatte ein Dorn im Auge, weil sie zu weniger Umverteilung im System führen, indem Menschen mit tiefen Krankheitskosten hohe Franchisen wählen und aufgrund der Prämienrabatte weniger zu den Gesamtkosten beitragen. Je mehr Wahlfreiheit den Menschen bei den Franchisen gewährt wird, desto weniger Umverteilung zwischen Gesunden und Kranken findet statt.

Grundsätzlich erfüllen die Franchisen zwei wichtige Funktionen. Als eine Art von Selbstbehalt fördern sie bei den Versicherten das gesundheitsbewusste Verhalten und reduzieren die Zahl unnötiger Arztbesuche. Auch bei vielen anderen Versicherungen gibt es einen Selbstbehalt für Bagatellfälle.

Den Krankenkassen signalisieren die Versicherten durch die Wahl der Franchise, ob sie voraussichtlich im nächsten Jahr hohe oder tiefe Kosten verursachen werden.Weil dieVersicherer in der Grundversicherung keine individuellen Informationen zum Gesundheitszustand einholen dürfen, können die Versicherer via Franchisewahl die Zusammensetzung des Versichertenbestandes abschätzen. Die Wahl der «richtigen» Franchisen ist daher eine gesellschaftlich auszuhandelnde Mischung aus Effizienz- und Gerechtigkeitsaspekten.

Interessant ist in diesem Zusammenhang die ökonomische Logik hinter den Franchisen. Gehen wir davon aus, dass sich die Versicherten bei der Wahl einer Franchise rational in dem Sinne verhalten, dass sie für eine gegebene Leistung möglichst wenig bezahlen möchten.

Dann zeigen Analysen, dass die «mittleren» Franchisen (500, 1000, 1500
und 2000 Fr.) von den beiden extremen Franchisen (300 und 2500 Fr.) dominiert werden. Anders ausgedrückt: Ein Versicherter, der sich im obigen Sinne rational verhält, sollte stets entweder die minimale oder die maximale Franchise wählen. Konkret sind die gesamten Krankheitskosten den dem Versicherten effektiv entstehenden Kosten gegenüberzustellen. Tut man dies systematisch, zeigt sich, dass die Prämien für die mittleren Franchisen so hoch sind, dass es sich finanziell niemals lohnt, sie zu wählen – unabhängig davon, welche Kosten vom Versicherten für die Zukunft erwartet werden. Dieses Verhalten beobachten wir aber in der Praxis nicht.

Gemäss einer Studie des EDI vom September 2015 wählten rund 2,5 Millionen Versicherte die Minimalfranchise von 300 Fr. und rund 1 Million Versicherte die Maximalfranchise von 2500 Fr. Etwa 2,3 Millionen Versicherte wählten eine mittlere Franchise – mit anderen Worten: Knapp 40 Prozent der Versicherten bezahlen oftmals zu viel.

Eine mögliche Erklärung dieses Phänomens liefert die Verhaltensökonomie. Es konnte in Experimenten nachgewiesen werden, dass Menschen in Auswahlsituationen häufig eine Tendenz haben, sich für die «mittlere» Alternative zu entscheiden. In einem Experiment wurden Versuchspersonen zwei Arten von Bier angeboten, ein Premium-Bier für 2 Dollar 50 und ein günstiges Bier für 1 Dollar 80. 80 Prozent wählten das Premium-Bier.

Nun wurde ein drittes, supergünstiges Bier für 1 Dollar 60 eingeführt. Niemand wählte dieses, aber nun wählten 80 Prozent das günstige Bier. In einer dritten Variante wurde noch ein Super-Premium-Bier für 3 Dollar 40 zur Auswahl hinzugenommen. Dieses wurde von 10 Prozent gewählt. Die meisten Leute wählten nun aber wieder das Premium-Bier für 2 Dollar 50.Das Experiment aus den USA illustriert, dass der Kontext, in dem Produkte präsentiert werden, einen grossen Einfluss auf die Wahlentscheidungen von Menschen hat. Sie scheinen intuitiv das Gefühl zu haben, dass eine «mittlere» Alternative vorteilhaft ist. Insbesondere bei abstrakten Produkten wie Versicherungsverträgen, bei denen man erst recht aufwendige Berechnungen anstellen (oder Internetrecherchen betreiben) muss, um sie zu verstehen, liegt es nah, dass viele Menschen «aus dem Bauch heraus» entscheiden.

Die aktuelle Preisgestaltung bei den Krankenkassenprämien lässt verschiedene Interpretationen zu. Einerseits ist es denkbar, dass die Versicherer die Prämien bewusst so gestalten, dass Randlösungen attraktiv bzw. rational erscheinen. Dies würde dafür sprechen, dass die Signalfunktion der Franchisewahl für die Versicherer ein bedeutsamer Aspekt ist. Andererseits könnte es sein, dass die Versicherer sich der «Tendenz zur Mitte» durchaus bewusst sind und damit rechnen, dass ein relativ grosser Anteil an Versicherten Franchisen wählt, die deutlich zum Vorteil der Versicherer sind.

Aus Sicht der Versicherten ist die Schlussfolgerung klar: Sie sollten sich von ihrer Versicherung die Tarife so lange erklären lassen, bis sie verstehen, ob die mittleren Franchisen dominiert werden. Falls dem so ist, ist die rationale Wahl die minimale oder die maximale Franchise.

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Diesen Text habe ich gemeinsam mit Martin Kolmar (Professor für angewandte Mikroökonomik an der Universität St.Gallen / HSG) verfasst. Der Text erschien am 2. Dezember 2015 in der Neuen Zürcher Zeitung als Gastkommentar auf Seite 12.

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