9.11.2010

Nützliche Piraten

Häufig imitiertes Produkt: Desinger-EinkaufskorbIn der Wissenschaft sind Plagiate verpönt. In der Wirtschaft ist das Imitieren fremder Produkte nicht nur verbreitet, sondern oft auch volkswirtschaftlich vorteilhaft. Die Schäden durch Produktpiraterie sind etwa bei Luxusgütern deutlich geringer als allgemein angenommen. Kampagnen wie aktuell “Stop Piracy” sind deshalb differenziert zu betrachten.

Firmen auf Wettbewerbsmärkten verfolgen unterschiedliche Strategien, um Gewinne zu machen. Beliebt ist einerseits die Produktdifferenzierung, bei der ein Anbieter sein Produkt durch bestimmte Merkmale unterscheidbar macht. Viele Märkte — etwa für Autos, PCs, Filme, Kleidung, Restaurantessen etc. — kennzeichnen sich durch Angebote, die ähnlich aber nicht identisch sind.

Andererseits kann die Imitation von Konkurrenzangeboten erfolgreich sein, weil dadurch Kosten für Marktforschung, Produktentwicklung und Vermarktung gesenkt werden können. Die Imitation ist insofern volkswirtschaftlich vorteilhaft, indem sie neue Produktideen, Designs etc. zusätzlichen Nachfragern zugänglich machen, damit den Konsumentennutzen steigert und zudem die Wettbewerbsintensität erhöht, was zu kostengünstigen Produkten führt.

Ein besonders interessantes Beispiel für systematisches Imitationsverhalten einer ganzen Branche liefern die TV-Sender. Sobald sich ein neues Genre als erfolgreich erweist, wird es von allen Konkurrenzsendern imitiert. Der Boom der Krankenhausserien begann in den USA mit “Emergency Room” und fand in kurzer Zeit viele Nachahmer. Ähnliches lässt sich bei Quizshows, Kochsendungen, Late Night Shows und Romantic Daily Soaps beobachten.

Eine Erklärung liegt in der Unsicherheit der Anbieter bezüglich der Konsumentenpräferenzen. Die Sender wissen nämlich meist nicht, was sich die Zuschauer Neues wünschen. Befragungen helfen kaum weiter. Hätte man vor dem Kochsendungsboom die Präferenzen für diesen Typ erfragt, wäre das Ergebnis wohl enttäuschend ausgefallen. Erst nachdem sich erste Zuschauererfolge mit peppigen Starkoch-Formaten einstellten, entstand ein Boom. Selbst unser Staatssender sah sich unter Zugzwang und hat eine eigene Kochshow lanciert. Die Zuschauer beissen erst an, wenn sie das fertige Produkt vor Augen haben, doch ist dessen Entwicklung meist teuer und risikobehaftet. Imitationen senken Kosten und Risiko der Nachahmer.

Patentschutz

Selbstverständlich wehren sich die Anbieter der Originalprodukte gegen die Imitate, weil diese ihre Gewinne schmälern. Aus volkswirtschaftlicher Sicht ist aber zu fragen, in wiefern diese Gewinne zu schützen sind. Dieser Schutz ist gegen die Gewinne anderer Anbieter und den Nutzen der Konsumenten abzuwägen.

Innovationen lassen sich unter gewissen Voraussetzungen durch Patente schützen. Deren ökonomische Begründung liegt darin, den Anreiz zu innovativer Tätigkeit (z.B. Forschung bei Medikamenten) aufrecht zu erhalten. Ohne Patentschutz würden manch nützliche Erfindungen nicht geschehen und Entwicklungen von Produkten nicht stattfinden. Wichtig ist hierbei, dass das Patent als Monopol zwar zusätzliche Gewinne zur Deckung der Entwicklungskosten erlaubt und damit Anreize zu weiterer Forschung bietet, aber nur vorübergehender Natur ist. Nach Ablauf des Patents steht die Innovation allen Anbietern offen und stiftet einer steigenden Zahl von Konsumenten zu sinkenden Preisen einen Nutzen.

Auch wenn man im Einzelfall darüber streiten kann, ob ein bestimmtes Patent diesem Grundgedanken wirklich entspricht, sind Patente volkswirtschaftlich sinnvoll. Zweifelhaft sind etwa Fälle, wo Komponenten von Produkten nur deshalb patentiert werden, damit das Produkt nicht frei importiert werden kann. Bei modernen High-Tech-Velos verhindern Patente auf bestimmten Komponenten z.B. den Parallelimport aus dem Ausland.

Produkte- und Markenschutz

Etwas anders stellt sich die Problematik beim Produkte- und Markenschutz. Viele Hersteller aus Asien, aber auch Europa und den USA, kopieren relativ unverfroren erfolgreiche Produkte. Die Stiftung Plagiarius kürt jedes Jahr die besten Imitationen aus aller Welt und stellt sie in einem Museum zur Schau. Das Spektrum umfasst Motorräder, Taschen, Koffer, Besteck, Möbel, Wasserhähne, Spielzeuge, Rasenmäher etc. — es gibt anscheinend nichts, das nicht kopiert würde.

Neben dem Nutzen für die Konsumenten stellt sich die Frage nach dem Schaden für den Originalhersteller. Dabei ist es zentral, ob das Imitat vom Nachfrager als Substitut für das Original angesehen und eingesetzt wird.

Verwendet z.B. ein Maschinenhersteller ein kopiertes Maschinenteil statt des Originals, entsteht dem Originalanbieter ein Schaden, falls ansonsten das Originalteil verwendet worden wäre. Weil das Originalteil meist teurer ist, ist aber nicht sicher, dass dieses tatsächlich die relevante Alternative gewesen wäre. Ohne die Verfügbarkeit einer Kopie, wäre möglicherweise eine andere Lösung gefunden worden, sodass dem Originalhersteller gar kein Schaden entstanden ist.

Noch deutlicher ist diese Problematik bei Luxusartikeln. Die Hersteller von Schweizer Luxusuhren etwa, beklagen sich über Schäden durch Billigkopien aus Asien. Im Jahre 2009 wurden an Schweizer Grenzen gemäss Zollstatistik 242 Uhrenfälschungen beschlagnahmt. Nimmt man an, dass der Zoll nur ein Zehntel der effektiv importierten Menge findet und der Wert einer Originaluhr 5′000 CHF beträgt, kommt man auf einen Schaden von ca. 12 Millionen CHF.

Effektiv ist den Originalherstellern aber kaum ein direkter ökonomischer Schaden entstanden. Denn all jene, die im Ausland für 20 Euro eine “Rolex” gekauft haben, hätten dafür in der Schweiz wohl kaum 5′000 CHF bezahlt. Vor allem bei Luxusgütern — wie edlen Uhren, Schmuck und hochpreisiger Markenkleidung — unterscheiden sich die Kundensegmente der Originale und der Kopien grundlegend. Fälschungen sind hier nicht Substitute für Originale, sondern bilden einen zusätzlichen Absatzmarkt für eine neue, zusätzliche Käufergruppe. Wer eine MCM-Tasche oder ein Gucci-T-Shirt im Internet für 30 Euro kauft, weiss dass es sich nicht um ein Original handelt. Er befindet sich ein einem neuen Marktsegment.

Volkswirtschaftlicher Nutzen

Deshalb ist zu fragen, in wiefern sich marken- und urheberrechtliche Schutzbestimmungen in einer Marktwirtschaft rechtfertigen lassen. Marken resultieren aus einer Strategie der Produktdifferenzierung. Diese erhöht die Vielfalt hinsichtlich Art und Qualität der Produkte und steigert somit den Nutzen der Konsumenten durch eine grössere Auswahl. Zugleich werden den Anbietern zusätzliche Gewinne ermöglicht.

Ob diese Gewinne schutzwürdig sind, ist ökonomisch gesehen zumindest zweifelhaft. Entfällt der Schutz eines Markenproduktes vor Imitaten, mindert sich zwar der Anreiz zur Investition in die Marke. Allerdings ist der volkswirtschaftliche Nutzen des Erhalts von Marken und damit von Markengewinnen kaum belegbar. Hierzu zwei Argumente:

1) Für den Aufbau einer Marke sind enorme Marketingaufwendungen notwendig, die nicht wirklich wertschöpfend sind. Ohne massive Werbung wäre den Kunden kaum vermittelbar, warum sie für eine Designer-Jeans das mehrfache einer No-Name-Jeans bezahlen sollten. Der scheinbare Nutzen der Marke wird dem Kunden also erst durch die Werbung suggeriert. Teilweise versuchen die Markenanbieter zudem, den höheren Preis durch eine bessere Qualität zu rechtfertigen. Wie unzählige Tests bei Konsumprodukten belegen, ist die Korrelation zwischen hohem Preis und hoher Qualität von Markenprodukten allerdings weitgehend inexistent; vgl. die Liste von Tests aus der Konsumentenzeitschrift SALDO unten.

Die Suggerierung von Qualitätsunterschieden, die falsch oder nicht nachweisbar sind und die unter dem Deckmantel des Markenprodukts der Generierung zusätzlicher Gewinne dienen, halte ich jedenfalls nicht für volkswirtschaftlich vorteilhaft und auch nicht schützenswert, vor allem wenn mit günstigeren Imitationen zusätzliche Kundensegmente bedient werden.

Das Argument der so genannten Signaltheorie, wonach teure Werbung den Konsumenten eine hohe Produktqualität signalisiert, auch ohne dass produktrelevante Informationen vermittelt werden, halte ich übrigens für interessant, denn sie liefert für Spots wie diesen (von NIKE) eine mögliche Erklärung. Die Gleichung “teure Werbung = gutes Produkt” mag also bei manchen Konsumenten wirken, demonstriert aber keinen volkswirtschaftlichen Nutzen.

2) Auch ohne schützbare Marken und Produkte besteht für die Anbieter weiterhin ein Anreiz zur Produktdifferenzierung. Vorübergehende Gewinne sind — wie beim Patent — durch Innovationen immer noch erzielbar. Der dauerhafte Schutz vor Konkurrenz durch eine Marke ist für die Innovationsfunktion des Wettbewerbs nicht zwingend.

Diese Erkenntnis hat sich in der Praxis bereits durchgesetzt. Besonders dynamische Firmen sind in Märkten mit hohen Innovationsraten dazu übergegangen, ihre Schutzrechte (beruhend auf Urheberschaft, Patent, Marke etc.) aufgrund des hohen zeitlichen und finanziellen Bedarfs gar nicht mehr durchzusetzen. Sie setzen stattdessen auf ihre Innovationskraft und versuchen, der Konkurrenz immer einen Schritt voraus zu sein.

Fazit

Insgesamt scheint mir also die Aufregung um Produktpiraterie reichlich übertrieben. Während es bei Patenten und teilweise auch bei geschützten Produkten (nur insofern Imitate Originale im selben Markt verdrängen) durchaus ökonomische Gründe zugunsten von gewissen Schutzrechten der Originalhersteller geben kann, scheint mir der volkswirtschaftliche Nutzen durch Ausbreitung der Produkte und Schaffung neuer Märkte in vielen Fällen klar zu überwiegen.

Die Schäden durch Produktpiraten sind zudem weitaus geringer, als die Industrie behauptet. Wie am Beispiel der markengeschützten Luxuskonsumgüter erläutert, sind sie manchmal sogar vernachlässigbar klein.

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Produktetests von Saldo.ch:

Merke: Qualität und Preis haben meist nicht sehr viel mit einander zu tun. Wer eine teure Marke kauft, bekommt für den hohen Preis primär einmal die Marke… gute Qualität nur mit Glück.

Kommentare

Über die Fallstricke von Plagiaten und Eigenplagiaten in der Wissenschaft habe ich hier berichtet.

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