Wahlfreiheit ist nicht gratis, auch nicht im Gesundheitswesen. Deshalb hat die Gesundheitskommission des Nationalrats (SGK-N) letzte Woche einen Vorschlag unterbreitet, wonach Krankenversicherte künftig einen höheren Selbstbehalt tragen, wenn sie sich nicht einem Ärztenetz anschliessen. Dies ist prinzipiell eine gute Idee, birgt aber Fallstricke. Wie immer, wenn man mit Anreizen steuern will, steckt der Teufel im Detail.
Kosten der maximalen Wahlfreiheit
Im heutigen System kann sich jeder Grundversicherte den Arzt oder die Ärztin in jedem Krankheitsfall aufs neue frei aussuchen. Der Patient kann zudem direkt zu einem oder mehreren Spezialärzten gehen, ohne vorher mit einem Hausarzt zu sprechen. Das ist maximale Wahlfreiheit, bewirkt aber auch höhere Kosten, weil dadurch auch unnötige Konsultationen entstehen. Die meisten Probleme können durch die günstigeren Hausärzte oder andere Grundversorger gelöst werden, ohne dass ein teurer Spezialist eingeschaltet wird; vgl. auch meinen Blogeintrag zu den Ärztelöhnen.
Länder, in denen die Patienten immer zunächst einen Grundversorger aufsuchen — wie etwa die Niederlande — weisen deshalb tiefere Kosten auf, ohne dass die Versorgungsqualität sinkt.
Differenzierter Selbstbehalt
Der Vorschlag der SGK geht deshalb in die richtige Richtung. Versicherte, die sich einem integrierten Versorgungsnetz anschliessen — worunter ein Verbund von Ärzten verstanden wird, welcher die Behandlungen koordiniert und Budgetverantwortung übernimmt — tragen weiterhin einen Selbstbehalt von nur 10% sobald die Kosten die gewählte Franchise übersteigen. Das Versorgungsnetz kann dabei frei gewählt werden. — Wer auf der bisherigen, maximalen Wahlfreiheit besteht und sich seine Ärzte ständig neu aussuchen will, trägt 20% Selbstbehalt.
Die Krux liegt im Detail
So weit so gut. Ein wichtiges Detail betrifft aber den absoluten Selbstbehalt. Heute ist die Summe des Selbstbehalts auf CHF 700.- pro Jahr beschränkt. Beispielsweise: Eine Person mit Franchise CHF 300.- trägt 10% der über diesem Betrag liegenden Kosten so lange, bis die Summe dieses Selbstbehalts CHF 700.- erreicht. Ab einem Leistungsbezug von CHF 7′300.-* entfällt somit jegliche Selbstbeteiligung des Patienten und es kann “frei” konsumiert werden. (*Freigrenze = 300.- + (10 x 700.-) = 7′300.-).
Eine Erhöhung des Selbstbehalts von 10% auf 20% bewirkt nun aber, dass die Freigrenze – unabhängig von der Franchise – um CHF 3′500 sinkt. Das heisst, die Freigrenze von neu nurmehr CHF 3′800 wird schneller erreicht, weil “der Zähler schneller läuft“.
Entgegen der ursprünglichen Absicht, verschlechtern sich durch den höheren Selbstbehalt also die Anreize. Dies ist umso bedenklicher, als der Durchschnittskonsum der erwachsenen Versicherten mit ordentlicher Franchise in der Vergangenheit bei CHF 5′200 lag, also über der Freigrenze mit 20% Selbstbehalt.
Verteilung der Anreizwirkungen
Meine Analyse der Versichertendaten zeigt ferner, dass von einer Verschiebung der Freigrenze nach unten ca. 15% der Leistungen und ca. 8 bis 10% der Versicherten betroffen wären. Diese verlieren durch den höheren Selbstbehalt jeglichen Anreiz zu kostenbewusstem Konsum von Gesundheitsleistungen. Bei den übrigen Versicherten ergeben sich keine Anreizveränderungen, weil sie entweder nichts bzw. sehr wenig konsumieren (ca. 65% der Versicherten) oder weil sie viel konsumieren und deshalb die Freigrenze ohnehin erreichen (ca. 10% der Versicherten, welche gut 60% der Kosten verursachen). Bei etwa 20% der Versicherten ergibt sich eine gewisse Verbesserung der Anreize, weil sie die Freigrenze nicht erricht und einen höheren Selbstbehalt trägt, wobei diese Gruppe nur ca. 15% der Kosten ausmacht.
Fazit
Aus dieser Analyse lässt sich erstens schliessen, dass eine Verdoppelung des prozentualen Selbstbehalts mit einer Verdoppelung des kumulativen, jährlichen Selbstbehalts von CHF 700.- auf CHF 1′400.- einher gehen muss. Ansonsten sind zusätzliche Fehlanreize zu erwarten. — Dieser Gedanke ist erfreulicherweise im Vorschlag der SGK-N enthalten, wobei die Festlegung des absoluten Selbstbehalts dem Bundesrat obliegt. Eine linke Minderheit der Kommission ist gemäss NZZ allerdings gegen diese nötige Anpassung.
Zweitens zeigt sich, dass sich im heutigen System nur ein Teil der Nachfrager überhaupt steuern lässt. Der Grossteil der Versicherten konsumiert entweder keine oder nur wenige Leistungen und kann folglich nicht im Verhalten beeinflusst werden. Ein kleiner Teil verursacht hohe Kosten, doch handelt es sich meist um multimorbide und/oder chronisch kranke Menschen, deren Konsum sich ebenfalls nicht über finanzielle Anreize steuern lässt. Aus ethischen Gründen würde ich gar für eine Befreiung Chronischkranker von Franchise und Selbstbehalt plädieren.